Donnerstag, 26. Januar 2012

Abmahnung an das Amtsgericht München? Überraschende "Tauschbörse" von Argumenten über Filesharing-Vorwürfe, Schadensersatz, Kostenerstattung und Beweislast im Urheberrecht



Das Amtsgericht München ist bereits seit einiger Zeit Adressat und Gegenstand heftiger Kritik, wenn es um die Frage fairer Befassung mit und sachgerechter Beurteilung von Filesharing-Abmahnungen geht.
Am Morgen des 25.01.2012 gab es im Sitzungssaal B 815 im 8. Stock an der Pacellistraße in München neue Überraschungen.


Geklagt haben auf der Basis von IP-Adressen- und Hashwert-Ermittlungen zwei große deutsche Musik-(Major-)Labels gegen einen Rentner aus Ostwestfalen. Es geht um Schadensersatz und Erstattung anwaltlicher Abmahnungskosten wegen behaupteter Filesharing-Teilnahme im September 2007. Der Beklagte hat nach eigenem Vortrag niemals irgend eine P2P-Software auf den am häuslichen WLAN-Netzwerk teilnehmenden Rechnern oder sonstwo installiert - ebenso wenig wie die übrigen Netzwerk-Nutzer. Der Router war im Jahre 2003 erworben und mit zu jener Zeit im privaten Gebrauch verkehrsüblichen und zumutbaren Zugangssicherungen bzw. Verschlüsselungen eingerichtet worden - bei individualisiertem, langem und kompliziertem Passwort, was von den Klägerinnen bestritten wird.

Für die klagenden Musik-Labels erschienen zwei Rechtsanwälte der Anwaltskanzlei Waldorf Frommer, eine Kollegin und ein Kollege.

Für den nicht erschienenen Beklagten, dessen persönliches Erscheinen allerdings vom Gericht mit der Ladung angeordnet worden war, legte sein Prozessbevollmächtigter eine über die anwaltliche Bevollmächtigung hinausgehende Vertreter-Vollmacht gem. § 141 Abs. 3 Satz 2 ZPO vor, um dem Beklagten den Zeit- und Kostenaufwand einer persönlichen Anreise nach München in diesem Stadium des Verfahrens zu ersparen. Dies war und ist bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen prozessual zulässig.

Über technische Komponenten lässt sich trefflich streiten

Der zuständige Richter am Amtsgericht, Herr Weihrauch, führte - entgegen den medial erzeugten Befürchtungen - objektiv und unvoreingenommen in den Sach- und Streitstoff ein und thematisierte dabei wesentliche sachverhaltliche Streitpunkte und damit im Zusammenhang stehende unterschiedliche Rechtsauffassungen der Parteien. Dabei brachte das Gericht u. a. zum Ausdruck, dass man auch "über die technische Komponente" durchaus "trefflich streiten kann". Die diesbezüglichen Behauptungen der klagenden Musikindustrie seien - so der Richter - von Beklagtenseite in erstaunlich dezidierter und in "zulässiger Weise bestritten" worden.

Besonders breit wurden die sog. "sekundäre Darlegungslast" und die insoweit erwartbaren und zumutbaren Pflichten und Möglichkeiten eines Internet-Anschlussinhabers erörtert. Der mit detaillierter Akten- und Rechtskenntnis ausgestattete Richter verdeutlichte, dass ihm sehr wohl beispielsweise die Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Köln zur Frage der "ernsthaften Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufs" (Beschluss des OLG Köln vom 24.03.2011, Az. 6 W 42/11) bekannt ist.
Der 6. Zivilsenat des OLG Köln hatte im Rahmen eines Prozesskostenhilfe-Verfahrens ausdrücklich entschieden, dass "die tatsächliche Vermutung, dass der Inhaber eines Internetanschlusses für eine von diesem Anschluss aus begangene Rechtsverletzung verantwortlich ist (...), ... entkräftet ist", wenn "die ernsthafte Möglichkeit eines von der Lebenserfahrung, auf die die Vermutung gegründet ist, abweichenden Geschehensablaufs feststeht".
Das Amtsgericht München ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass entsprechende Betrachtungen richterlich sehr sorgfältig zu prüfen und gewissenhaft abzuwägen sind.

Es sich nicht leicht machen

Das unterschiedliche "Wesen tatsächlicher Vermutungen und gesetzlicher Vermutungen" wurde richterlich ausdrücklich differenziert betrachtet und die wechselseitige Darlegungs- und Beweislast keineswegs pauschal bewertet. Es wurde angekündigt, die Darlegungs- und Beweislast nicht zuletzt von den konkreten Umständen des Einzelfalls angemessen abzuleiten. Dieses Gericht will es sich erkennbar nicht leicht machen.

In dem Zusammenhang war offensichtlich auch die Einzelfallentscheidung des OLG Düsseldorf vom 14.11.2011, Az. I-20 W 132/11 zu Substantiierungspflichten innerhalb von Filesharing-Abmahnungen gerichtsbekannt, wobei der Münchener Richter mit großer Souveränität - und zu Recht - für sich in Anspruch nahm, im Bestreben nach einer möglichst einheitlichen Rechtsprechung sich selbstverständlich mit Entscheidungen von Obergerichten auch außerhalb von Bayern zu befassen, andererseits sich allerdings unbeschadet dessen eine eigene souveräne Rechtsmeinung zu bilden und insoweit als Richter unabhängig Recht zu sprechen.

Völlig offen

Die Verhandlung wurde nicht nur äußerst sachlich, in sehr angenehmem Verhandlungsklima - zumal an diesem sonnigen Wintermorgen bei strahlend blauem Himmel - und in wechselseitigem Respekt vor unterschiedlichen Bewertungen und Rechtsauffassungen geführt, sondern auch in jeder Hinsicht unvoreingenommen und ergebnisoffen. Dies dokumentierte sich u. a. in Äußerungen des Gerichts wie: "Ich habe keine Vorstellung, was da raus kommt" oder "Das ist völlig offen".

Bei aller Ernsthaftigkeit hinsichtlich der im Raum stehenden Filesharing-Vorwürfe einerseits und hinsichtlich der aus der Sicht des Beklagten sehr anspruchsvollen, aber keineswegs aussichtslosen Verteidigungserfordernisse auf der anderen Seite: Alle Prozessbeteiligten ließen es dennoch nicht an einem sogar in prozessualen Verhandlungen zulässigen Humor fehlen. Der wechselseitige, teilweise durchaus mit Sprachwitz vorgetragene Schlagabtausch ließ auch dafür Raum. Auch das soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden.

Dies ändert nichts daran, dass der Richter - unbeschadet ergänzendem Substantiierungsbedarf auf Seiten des Klagevortrags - wegen des in mehrfacher Hinsicht streitigen Prozessstoffes drohende Beweiskosten (für benannte Zeugen, benannte sachverständige Zeugen sowie für Sachverständigengutachten) in Höhe von "mindestens 5.000,00 Euro" in den Raum stellte - eine in diesem Fall aus meiner Sicht nicht unrealistische Einschätzung.

Im Rahmen der ca. 75-minütigen Verhandlung wurde sodann erörtert, welcher weitereVerfahrensablauf für den Fall streitiger Prozessfortführung am sinnvollsten ist: Zunächst die Vernehmung der Zeugen insbesondere zu den Fragen der Installation, Sicherung und Überwachung des häuslichen WLAN-Netzwerkes sowie zur Frage der im vorliegenden Fall unterbliebenen Filesharing-Software-Installation und -Nutzung (mit der erforderlichen Anreise diverser Zeugen nach München) - oder vorab die gerichtliche Einholung von teuren Sachverständigengutachten zur Analyse der komplett beim Beklagten noch vorhandenen Hardware und/oder zur Analyse der seitens der Klägerinnen behaupteten IP-Adressen-Ermittlungen, Hash-Wert-Ermittlungen und der diesbezüglich vermeintlich forensisch ausreichend abgesicherten Dokumentierungen? Auch dies wurde ergebnisoffen diskutiert.

Prozess-Ökonomie und Preis-Verhandlung

Der Richter moderierte sodann - seiner gesetzlichen Aufgabe im Rahmen der Güteverhandlung entsprechend - die Möglichkeiten eines etwaigen Vergleichsabschlusses.

Nach engagierter beiderseitiger Verhandlung und Sitzungsunterbrechung für die beiden Prozessbevollmächtigten der Klägerinnen wird schließlich aus prozessökonomischen Gründen und - seitens des Beklagten unter ausdrücklicher Aufrechterhaltung seiner Rechtsstandpunkte - zur Erledigung aller streitgegenständlichen Forderungen die Zahlung eines Vergleichsbetrages vereinbart in Höhe von weniger als 30 % der Klagesumme, wobei die Klägerinnen ihre eigenen Anwaltskosten selbst tragen bei gleichzeitiger Teilung der Gerichtskosten (Kostenaufhebung). Auf eine höhere Vergleichsquote hätte sich der Beklagte nicht eingelassen, sondern stattdessen den Rechtsstreit trotz allen drohenden Aufwands in einem zu erwartenden fairen Prozess weitergeführt.

Im Rahmen des Vergleichs wurde hinsichtlich der prozessual von den Klägerinnen behaupteten Rechtsverletzungen seitens der Klägerinnen auf die Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung verzichtet. Im vorliegenden Fall hatte der Beklagte nach der Abmahnung weder die von den Klägerinnen verlangte strafbewehrte Unterlassungserklärung, noch eine modifizierte strafbewehrte Unterlassungserklärung abgegeben. Dabei blieb es.

Der oben geschilderte Verhandlungsverlauf und das Verhandlungsergebnis dokumentieren m. E. - gemessen an der zuvor existierenden kritischen "Presse" bezüglich des Amtsgerichts München - anschaulich, dass pauschale Gerichtsschelte grundsätzlich nicht angebracht ist - auch nicht im Zusammenhang mit dem Streitgegenstand Filesharing-Abmahnung und diesbezüglich prozessual anhängig gemachten Schadensersatzansprüchen und Kostenerstattungsansprüchen.

Couragierte, engagierte, umfassende und vertiefte Rechtsverteidigung wird auch im Urheberrecht und auch in München selten überhört. Das sollte eigentlich gar nicht überraschen.