Donnerstag, 24. Januar 2013

"Grundrecht auf Internet" und Nutzungsausfall für eine Lebensgrundlage

Mit Update vom 21. Februar 2013

Das Urteil des BGH vom 24.01.2013 (Az. III ZR 98/12), das dem Kunden eines Telekommunikationsunternehmens grundsätzlich Schadensersatz für den mehrwöchigen Ausfall seines DSL-Anschlusses und die damit entgangenen Nutzungsmöglichkeiten zuspricht, kann in seiner Bedeutung weit über finanzielle Regress-Phantasien hinausgehen. Wenn Karlsruhe das Internet als Lebensgrundlage anerkennt, ist es vielleicht kein zu weiter Weg zum "Grundrecht auf Internet":


Der Inhaber eines DSL-Internetanschlusses verlangt mit prozessualem Erfolg Schadensersatz für die wegen einer technisch missglückten Tarifumstellung fortgefallene Möglichkeit, seinen DSL-Anschluss während eines Zeitraums von ca. zwei Monaten für die Festnetztelefonie und den Telefaxverkehr (Voice und Fax over IP, VoIP) sowie insbesondere auch für den Internetverkehr zu nutzen.

Nach ständiger BGH-Rechtsprechung bleibt Nutzungsausfall für Wirtschaftsgüter grundsätzlich solchen Fällen vorbehalten, "in denen sich die Funktionsstörung typischerweise als solche auf die materiale Grundlage der Lebenshaltung signifikant auswirkt". 

Das wird für den Ausfall eines Telefaxes ausdrücklich verneint, da ein Telefax lediglich ermöglicht, "Texte oder Abbildungen bequemer und schneller als auf dem herkömmlichen Postweg zu versenden", ohne dass sich dies im privaten Bereich signifikant auswirkt, zumal das Telefax zunehmend beispielsweise durch E-Mail verdrängt wird. Im Ergebnis hat der BGH auch für den Ausfall des Festnetztelefons einen Anspruch auf Nutzungsausfall verneint, obwohl die Nutzungsmöglichkeit des Telefons ein Wirtschaftsgut darstellt, "dessen ständige Verfügbarkeit für die Lebensgestaltung von zentraler Wichtigkeit ist". Nutzungsausfall für das Festnetztelefon wird aber verneint, weil dem Geschädigten ein gleichwertiger Ersatz z. B. per Mobiltelefon zur Verfügung steht und ihm der hierfür anfallende Mehraufwand ersetzt wird. 

Zur Bedeutung der darüber hinausgehenden Nutzungsmöglichkeiten eines Internetanschlusses heißt es in der Pressemitteilung des III. Zivilsenates des Bundesgerichtshofes:

 Demgegenüber hat der Senat dem Kläger dem Grunde nach Schadensersatz für den Fortfall der Möglichkeit zuerkannt, seinen Internetzugang für weitere Zwecke als für den Telefon- und Telefaxverkehr zu nutzen. Die Nutzbarkeit des Internets ist ein Wirtschaftsgut, dessen ständige Verfügbarkeit seit längerer Zeit auch im privaten Bereich für die eigenwirtschaftliche Lebenshaltung typischerweise von zentraler Bedeutung ist. Das Internet stellt weltweit umfassende Informationen in Form von Text-, Bild-, Video- und Audiodateien zur Verfügung. Dabei werden thematisch nahezu alle Bereiche abgedeckt und verschiedenste qualitative Ansprüche befriedigt. So sind etwa Dateien mit leichter Unterhaltung ebenso abrufbar wie Informationen zu Alltagsfragen bis hin zu hochwissenschaftlichen Themen. Dabei ersetzt das Internet wegen der leichten Verfügbarkeit der Informationen immer mehr andere Medien, wie zum Beispiel Lexika, Zeitschriften oder Fernsehen. Darüber hinaus ermöglicht es den weltweiten Austausch zwischen seinen Nutzern, etwa über E-Mails, Foren, Blogs und soziale Netzwerke. Zudem wird es zunehmend zur Anbahnung und zum Abschluss von Verträgen, zur Abwicklung von Rechtsgeschäften und zur Erfüllung öffentlich-rechtlicher Pflichten genutzt. Der überwiegende Teil der Einwohner Deutschlands bedient sich täglich des Internets. Damit hat es sich zu einem die Lebensgestaltung eines Großteils der Bevölkerung entscheidend mitprägenden Medium entwickelt, dessen Ausfall sich signifikant im Alltag bemerkbar macht. (Fettdruck durch den Verfasser)
Mit dieser höchstrichterlichen Analyse und Bewertung ist in Karlsruhe das Tor geöffnet worden auch für zeitgerechte und mediengerechte Einordnungen in Richtung einer Art "Grundrecht auf Internet" - vor dem Hintergrund der gerichtlich anerkannten aktuellen Lebens- und Kommunikationswirklichkeit sowie der damit korrespondierenden schutzwürdigen Bedürfnisse und Interessen samt den verfassungsrechtlich normierten Grundrechten der Meinungs- und Informationsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG), auch der Berufsfreiheit (Art. 12 GG) und der Eigentumsgarantie (Art. 14 GG) sowie den Rechten auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 und 1 Abs. 1 GG) und den grundgesetzlichen Garantien und Prinzipien zu elterlicher Erziehung und schulischer Bildung (vgl. Art. 6 und 7 GG) und nicht zuletzt dem Sozialstaatsprinzip des Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG.

Das heutige BGH-Urteil kann der unumkehrbare Beginn lebensnaher höchstrichterlicher Ankunft in der Wirklichkeit "2.0"  bzw. der Realität von "Social Media" sein. Da öffnen sich weitere Argumentationsfenster gegen Netzsperren und Three- oder Six-Strikes-Modelle.

Update vom 21. Februar 2013 

Zwischenzeitlich liegt das Urteil des BGH vom 24.01.2013 im Volltext vor.
Auch darin finden u.a. "Foren, Blogs und soziale Netzwerke" signifikante und relevante Erwähnung:

Die Nutzbarkeit des Internets ist ein Wirtschaftsgut, dessen ständige Verfügbarkeit seit längerer, jedenfalls vor dem hier maßgeblichen Jahreswechsel 2008/2009 beginnender Zeit auch im privaten Bereich für die eigenwirtschaftliche Lebenshaltung typischerweise von zentraler Bedeutung ist und bei dem sich eine Funktionsstörung als solche auf die materiale Grundlage der Lebenshaltung signifikant auswirkt. Das Internet stellt weltweit umfassende Informationen in Form von Text-, Bild-, Video- und Audiodateien zur Verfügung. Dabei werden thematisch nahezu alle Bereiche abgedeckt und verschiedenste qualitative Ansprüche befriedigt. So sind etwa Dateien mit leichter Unterhaltung ebenso abrufbar wie Informationen zu Alltagsfragen bis hin zu hochwissenschaftlichen Themen. Dabei ersetzt das Internet wegen der leichten Verfügbarkeit der Informationen immer mehr andere Medien, wie zum Beispiel Lexika, Zeitschriften oder Fernsehen. Darüber hinaus ermöglicht es den weltweiten Austausch zwischen seinen Nutzern, etwa über E-Mails, Foren, Blogs und soziale Netzwerke. Zudem wird es zunehmend zur Anbahnung und zum Abschluss von Verträgen, zur Abwicklung von Rechtsgeschäften und zur Erfüllung öffentlich-rechtlicher Pflichten genutzt (von der unübersehbaren Vielfalt z.B. nur: Fernabsatzkäufe, Hotel-, Bahn- und Flugbuchungen, Erteilung von Überweisungsaufträgen, Abgabe von Steuererklärungen, An- und Abmeldung der Strom-, Gas- und Wasserversorgung sowie der Müllabfuhr, Verifikation von Bescheinigungen). Nach dem unbestritten gebliebenen Sachvortrag des Klägers bedienen sich nahezu 70 % der Einwohner Deutschlands des Internets, wobei dreiviertel hiervon es sogar täglich nutzen. Damit hat sich das Internet zu einem die Lebensgestaltung eines Großteils der Bevölkerung entscheidend mitprägenden Medium entwickelt, dessen Ausfall sich signifikant im Alltag bemerkbar macht. Die Unterbrechung des Internetzugangs hat typischerweise Auswirkungen, die in ihrer Intensität mit dem Fortfall der Möglichkeit, ein Kraftfahrzeug zu nutzen, ohne weiteres vergleichbar sind.

Freitag, 18. Januar 2013

Nach Filesharing-Abmahnung folgt Vertragsstrafen-Horror


 Die zweite Welle kommt

Aktuelle Korrespondenz- und Klage-Fälle - u.a. auch vor dem Landgericht Bielefeld - überraschen immer häufiger die vormaligen Empfänger von Filesharing-Abmahnungen. Einige Monate, nicht selten Jahre nach Unterzeichnung einer anwaltlich vorgegebenen Unterlassungserklärung werden sie nun mit z. T. extrem hohen Vertragsstrafen konfrontiert. Dann rächen sich voreilig unterschriebene Formulare und der Glaube, bei schneller Abgabe der vom Abmahnungsanwalt vorgegebenen "Unterlassungserklärung" nicht weiter behelligt zu werden. Das ist nämlich ein böser Irrtum und führt zu neuem Ungemach.

Nicht selten enthalten die den urheberrechtlichen Abmahnungen beigefügten Formulare nämlich rechtsverbindliche Erklärungen, deren Abgabe so weder gewollt, noch erforderlich oder sinnvoll ist. 

Nachteilige Formulare

So sind manche Unterlassungserklärungen zu weit gefasst
  • hinsichtlich der sie umfassenden Werke,
  • hinsichtlich der einbezogenen Verletzungshandlungen bzw. Verstoßsachverhalte,
  • hinsichtlich der Vertragsstrafenhöhen
  • oder auch hinsichtlich über etwaige Vertragsstrafen hinausgehender Erstattungs- bzw. Schadensersatz-Szenarien.
Ferner erzeugen die anwaltlichen Erklärungsvorgaben manchmal unbeabsichtigte, für etwaig nachfolgende gerichtliche Verfahren nachteilige Anerkenntnis-, Beweis- oder Indiz-Wirkungen, die bei sachgerechtem Vorgehen hätten vermieden werden können.

Lücken-Büßer

Selbstverständlich enthalten die einer Filesharing-Abmahnung beigefügten Erklärungsformulare regelmäßig nicht die im jeweiligen Einzelfall für den Internetanschlussinhaber interessengerechten und empfehlenswerten Zusätze, die die rechtliche Position des Erklärenden in einem etwaig folgenden Vertragstrafen-Prozess stärken können. Zu derartigen "Lücken", die man hinterher büßen muss, gehören beispielsweise fehlende optimierende
  • Ausschluss-Klauseln,
  • Betrags-Reduzierungen bzw. -Begrenzungen,
  • Verstoßeingrenzungen,
  • Ermessenseingrenzungen,
  • Haftungseingrenzungen,
  • (auflösende) Bedingungen.

Das Verhalten "danach"

Neben den vorgenannten Gesichtspunkten, die die Erklärungsabgabe selbst betreffen, ist vor dem Hintergrund der zunehmenden Vertragsstrafen-Streitigkeiten auch dringend eine gesteigerte Achtsamkeit nach der Erklärungsabgabe zu empfehlen. Dies gilt besonders für verantwortungsvolle Verhaltens- und Organisationsmaßnahmen
  • hinsichtlich der eigenen Nutzung des Internets,
  • hinsichtlich der Nutzung des eigenen Internetanschlusses durch Dritte,
  • hinsichtlich deren Belehrung und ggf. gesteigerter Überwachung,
  • hinsichtlich der optimierten Absicherung des häuslichen Internetanschlusses,
  • und auch hinsichtlich einer beweissichernden Dokumentierung derartiger Konsequenzen.

Sowohl die etwaige Abfassung und Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung als auch das Verhalten nach Abgabe einer entsprechenden Unterlassungserklärung dürfen in keinem Fall "auf die leichte Schulter" genommen werden.

Die sich in jüngerer Zeit - außergerichtlich und per Klage - häufenden Vertragsstrafen-Forderungen  lassen aus meiner Sicht befürchten, dass insoweit in der nächsten Zeit mit einer wachsenden zweiten "Welle" von Filesharing-Post zu rechnen ist, von der Zahl der Betroffenen geringer als bei der klassischen Abmahnungswelle, hinsichtlich der geltend gemachten Geldbeträge allerdings deutlich höher.